ALLES FÜHLT ALLES (1)

Herr Weber. Bekannt geworden sind sie vor wenigen Jahren mit dem Buch „Alles fühlt“. Letztes Jahr ist „Lebendigkeit  – eine erotische Ökologie“ erschienen. Können Sie uns bitte sagen, wie das gemeint ist? Was fühlt alles? Und alles fühlt was? Und wieso Erotik? 

(Lacht.) Alles fühlt alles! Gemeint sind aber nur Lebewesen, keine Steine. Alle Lebewesen wollen leben. Und alles was lebt, teilt die Erfahrung, was gut fürs (eigene) Leben ist, was angenehm oder unangenehm ist. Mich beschäftigt diese existenzielle Gemeinsamkeit. Das ist weder eine Illusion noch romantischer Artenschutz. Wir brauchen diese Verbindung zu allem was lebt, weil wir sonst die Vorstellung von dem verlieren, was es bedeutet lebendig zu sein. Am Ausgangspunkt meiner Arbeiten stand die Beobachtung, dass artfremde Lebewesen uns Menschen so viel bedeuten. Das wollte ich verstehen. Ich dachte, wenn man das, was uns mit anderem Leben verbindet, erklären kann, können wir die Natur besser beschützen. Ich denke heute, dass uns mit allem, was lebendig ist, ein gemeinsames Anliegen verbindet und dass wir unsere Humanität aufgeben, wenn diese Verbindung verloren geht.

Von Gefühlen zu reden ist für einen Naturwissenschaftler eher mutig. Denn die Naturwissenschaften gehen davon aus, dass nur das wirklich ist, was gemessen werden kann. Wie können wir wissen, was die Lebewesen fühlen, die uns umgeben?

Dass nur real ist, was gemessen werden kann, ist Ausdruck einer Besessenheit unserer Zeit und ein großer Irrtum. So wie es auch falsch ist, dass nur das real ist, was auf dem Markt einen Preis erzielt. Denn real sind auch die lebensspendenden Beziehungen. Die werden zerstört, wenn nur noch zählt, was einen Preis erzielt. Wir glauben, dass der Markt ein Instrument ist, um die Wirklichkeit zu optimieren. Aber in Wahrheit ist er blind für alles, was wirklich wichtig ist.

Was spricht dafür, dass das, worüber ich schreibe, relevant ist?

Mein erstes Argument zielt auf die erlebte Evidenz ab. Wir sollten unsere Erfahrungen ernst nehmen. Wenn wir auf das achten, was wir erleben, dann stellen wir fest, dass wir eine bedeutungsvolle Innenwelt haben oder vielmehr sind. Das ist keine Illusion. Erklären wir diese Wahrnehmungen zur Illusion, dann machen wir aus uns eine Maschine und sind moralisch nicht mehr zurechnungsfähig. Jenseits unserer Erlebnisfähigkeit, gibt aber auch eine naturwissenschaftliche Evidenz. Lebewesen können schon deshalb keine Maschinen sein, weil sie stoffwechseln. Alle Lebewesen stehen über ihren Stoffwechsel im Austausch mit der Welt und miteinander, und sie bauen sich ständig um. Wir sind materiell im Durchfluss. Wenn wir ein Gummibärchen radioaktiv markieren und es essen, dann wird das Gummibärchen ein Teil unseres Körpers. Wir sind dann auch ein bisschen Gummibärchen. Es ist eben nicht so, dass wir einfach nur Nährstoffe „verbrennen“. Und das nimmt die Schulbiologie nicht zur Kenntnis.

Das erinnert ein wenig an den Naturphilosophen Meyer-Abich, der sagt: Wir haben nicht einen Leib, wir sind unser Leib.

Ja, dem stimme ich auf jeden Fall zu. Meyer-Abichs Mitwelt-Theorie war zu Beginn meiner Arbeit nicht ganz unwichtig für mein Denken. Aber über diesen Leib sind wir eben auch gleichzeitig Teil der WELT, weil wir uns beständig in diese Welt und aus dieser Welt heraus verwandeln. Dennoch ist jedes Individuum auch Agent eines ganz spezifischen, individuellen und absoluten Interesses. Der Gedanke, dass Lebewesen wie die Krieger in einer ihnen feindlich gesinnten Welt um ihr Glück kämpfen, ist dennoch verkehrt. Er ist eine Fiktion und stammt aus einer Zeit, als man dachte, dass die Welt und auch die Gesellschaft so funktionieren. Wissenschaft ist nie objektiv, sondern immer auch Produkt ihrer Zeit. Und die gegenwärtig führende Theorie ist nicht nur obsolet, sondern sie ist lebensgefährlich. Damit meine ich nicht, dass wir das Ziel „Objektivität“ aufgeben sollten. Aber eine Wissenschaft, die glaubt, nur dann objektiv zu sein, wenn sie die Welt in lauter kleine Schachteln unterteilt, irrt und sollte zugunsten komplexerer Theorien und Modelle aufgegeben werden.

Sprechen wir von einem Paradigmenwechsel à la Thomas Kuhn?

Ich glaube heute eher, dass alle Denker interessant sind, die in der Lage sind, aus mehreren Perspektiven zu denken, also eher „sowohl als auch“. Das ist es, was wir brauchen. Aber darin sind wir gar nicht geübt.

Lassen Sie mich einen Sprung machen, vom Gefühl zum Mitgefühl: Ist es nicht auch so, dass wir manchmal erstaunlich wenig fühlen oder mitfühlend sind?

Nun ja. Aber auch Tiere haben manchmal eine gewisse Kälte gegenüber ihren Nächsten.

Wären wir nicht völlig überfordert, wenn wir alles mitfühlen würden oder müssten?  

Fühlen bedeutet, die existenziellen Dimensionen des eigenen Seins zu erfahren. Es ist immer an die eigenen Existenzbedingungen gebunden. Das bringt Individualität hervor. Dennoch gibt es so etwas wie eine unabhängige eigene Existenz nicht, sondern immer nur eine Existenz als Ergebnis von Austauschprozessen. Die eigene Existenz ist immer auch an das Existieren der Anderen gebunden. Das ist unser Grunddilemma: Wir sind immer sowohl das Ganze als etwas vollständig davon Getrenntes. Eine Welt des totalen Mitgefühls oder der vollkommenen Symbiose zu denken, geht nicht, weil wir gleichzeitig immer auch Individuen sind. Und Individualität stellt sich gegen den Anderen. Wir sind eine Art Kontinuum und müssen in diesen Gegensätzen leben und irgendwie Position beziehen, und zwar so, dass sowohl die Individualität als auch das Ganze, dessen Teil wir sind, existieren kann. Es ist ein dauernder schmerzhafter Kompromiss.

Welche Funktion hat die Ratio?

Funktion ist in dieser Hinsicht kein passender Begriff. Sowohl was unsere Vorstellung von Rationalität als auch die von Gefühlen angeht. Zuerst zu den Gefühlen. Diese haben keine Funktion, sondern sind die Grundverfasstheit von allem, was lebt. In ihnen zeigt sich die Erfahrung unseres Seins. Wir können gar nicht anders als zu fühlen. Das Gefühl ist nicht wie eine Software, die dafür sorgt, dass die Maschine funktioniert. WIR SIND GEFÜHL. Die Erfahrung unserer Existenz ist unsere Natur. Der Verstand kategorisiert und systematisiert. So lange diese beiden Ebenen aneinander gekoppelt sind, ist das Denken nichts anderes als eine Konkretion fühlender Existenz. Koppelt es sich ab und sagt: So, jetzt wollen wir aber mal rational sein, dann wird es zu einer der Wirklichkeit widersprechenden Fiktion.

Brauchen wir nicht Begriffe, um über Gefühle sprechen zu können oder um sie handhaben zu können? Sie haben in ihrem Buch ja genau das getan: Sie haben eine Sprache gefunden – oder genau genommen erfunden – die uns einen Zugang zu dieser Welt ermöglicht.

Wir brauchen keine Worte, um zu fühlen. Fühlen hat etwas mit Körper zu tun und mit dem Austausch, in dem dieser Körper steht. Wenn wir anfangen, über unsere Empfindungen nachzudenken, suchen wir nach Begriffen und Kategorien. Der Hund hat keinen Begriff vom Stuhl, aber vom Sitzen. Wenn man ihm das Wort Stuhl beibringt, wird er mit diesem Begriff alle Erfahrungen verbinden, die mit Sitzen zu tun haben. Sein Begriff ist ganz und gar an seine körperliche Existenz gebunden. Wir Menschen sind begriffsversessen. Aber vielleicht funktionieren wir ja auch viel verkörperter, als es den Anschein hat. Ich denke, wir müssen uns auf diese Dinge zurückbesinnen. Deshalb sprechen ich auch davon, dass wir nicht so sehr auf Empirie beruhende begriffliche Objektivität brauchen, sondern so etwas wie eine poetische Objektivität. Eine Objektivität,  die sich allen Wesen, die einen Körper haben und die miteinander in Verbindung stehen, vermittelt. Es ist aber tatsächlich so, dass man auch dafür Worte finden muss. Weil diese Worte nicht feststehen. Wir sind in Bezug auf diese Art von Welterfahrung in der Situation eines Kindes, das anfängt die Sprache zu benutzen, um seine Bedürfnisse und Erfahrungen mitzuteilen. Kinder tun das anfangs auf eine extrem kreative Art und Weise. Diese Kreativität wird ihnen dann Stück für Stück aberzogen. Andererseits ist es ja auch wichtig, dieselben Begriffe zu verwenden, damit wir uns verstehen. Gleichzeitig wird so die Illusion erzeugt, dass Sprache ein objektivierendes Gerüst sein kann. Das kann sie aber nur teilweise. Sie hat darüber hinaus immer auch eine eigene kreative Dimension, was bedeutet, dass wir immer wieder neu um Ausdrücke ringen müssen. In meinem Buch „Alles fühlt“ war es mir wichtig, eine sehr eindringliche Sprache zu sprechen. Sprache ist kein Instrument der Kontrolle. Sprache ist selbst Wildnis. Eine Karte der Welt. So gesehen sind Begriffe wichtig und führen auch ein Eigenleben.

Ist das ein konstruktivistischer Gedanke?

Ja, auf jeden Fall. Ich habe ja auch bei einem Ex-Konstruktivisten in Paris studiert. Aber konstruktivistisch ist nur der Rahmen. Deshalb nenne ich es Bio-Poetik. So heißt übrigens auch das nächste Buch, das ich schreibe. Ich denke, es gibt eine Wirklichkeit. Aber sie lässt sich nur erfahren, indem wir sie erfinden. Dennoch ist es die Wirklichkeit und eben keine bloße Erfindung. Das gilt nicht nur für unsere Weltkonzepte sondern auch für alle Arten von Lebensvollzügen. Jedes Ökosystem ist die kollektive Erfindung seiner Teilnehmer.

Teil 2 dieses Interviews lesen Sie HIER

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