Kann man den Kapitalismus vor Gericht stellen? Das Kapitalismustribunal, das Anfang nächsten Jahres in Wien stattfindet, wird genau das tun. 28 Klagen sollen in sieben Tagen fair verhandelt werden. Vorausgesetzt man findet jemanden, der ihn verteidigt.
Wer das für einen Scherz hält, irrt. Das ganz hat einen sehr ernsthaften und plausiblen Hintergrund. Informelle Klagen über „den Kapitalismus“ gibt es inzwischen überall zu hören und zu lesen und immer mehr stimmen in das Klagelied mit ein. Doch wer ist eigentlich schuld? Wer kann es ändern? Gibt es wirklich Einzelne oder einzelne Institutionen, die den Kapitalismus bändigen könnten? Ist der Normalfall nicht, dass am Ende jeder mit dem Fingen auf den/die Anderen zeigt? Die Unternehmen auf die Konsument_innen, die Politik auf die Bürger_innen und die Unternehmen? Die Konsument_innen auf die Unternehmen? Die Gewerkschaften auf „das eine Prozent“? Und was wäre denn richtig? Was ist, wenn der Kapitalismus nicht wäre?
Rechtsgeschichtlich ist das Kapitalismustribunal vergleichbar mit den Nürnberger Prozessen. Nach dem zweiten Weltkrieg war das Standardargument (nach dem Fall der Mauer konnte man es auch oft hören) „wir haben nichts Unrechtes getan“, „wir haben nur getan, was uns befohlen wurde“, „Ich hatte keine Wahl. Wenn ich Widerstand geleistet hätte, hätte ich dafür büßen müssen (Jobverlust, Karriereknick bis hin zu Gefängnis).“ In Nürnberg wurde insofern Rechtsgeschichte geschrieben, weil von einem „höheren“ Gesichtspunkt aus ein neues Recht geschaffen wurde.
Über jedem geltenden Recht gibt es immer noch ein positives Rechtsempfinden, das sich von dem jeweils „geltenden Recht“ unterscheiden kann. Denn wenn man sich schon nicht auf eine große gemeinsame Vision einigen könne, halten sie es für einen großer Fortschritt, ein gemeinsames Verständnis von dem zu haben, was nicht sein dürfe.
Zur Zeit liegen mehr als 100 Klagen vor
Auf der Seite www.capitalismtribunal.org werden seit dem 1. Mai Anklagen gesammelt und veröffentlicht. Jeder lebende Mensch ist berechtigt, die zu verhandelnden Verbrechen des Kapitalismus anklagen.
Auf dem Solikon wurde das Kapitalismustribunal von Hendrik Sodenkamp und Jörg Petzold in einem Workshop vorgestellt. Der 26-jährige Theatermacher, Anthropologen und Journalist Hendrik Sodenkamp war lange als Gemeindeorganist tätig – und ist bekennender „Karriereverweigerer“ (dazu in Kürze mehr).
Wir haben mit Hendrik Sodenkamp nachfolgendes Interview geführt:
N21: Du bist also der Überzeugung, dass der Kapitalismus ein Verbrechen ist?
Sodenkamp: Ich glaube, dass große Verwerfungen und Ungerechtigkeiten durch den Kapitalismus hervorgerufen wurden. Ob er ein Verbrechen ist, wird das Wiener Tribunal zeigen. Dem möchte ich nicht vorhergreifen.
N21: Nach welchem Recht wird der Kapitalismus dann be- oder möglicherweise sogar verurteilt?
Sodenkamp: Der Kapitalismus und seine einzelnen Teile und Protagonisten werden im Rahmen des Tribunals nach überpositivem Recht beurteilt. Es handelt sich um einen überpositiven Gerichtshof in der Tradition der Russell-Tribunale, der Wilhelminenstraßen-Prozesse oder in letzter Konsequenz auch der Nürnberger Prozesse.
N21: Wer ist der Kapitalismus? Sind nicht wir alle der Kapitalismus?
Sodenkamp: Ich bin nicht der Kapitalismus, aber ich lebe im Kapitalismus. Wir stecken da alle drin.
N21: Wer trägt dann aber die Verantwortung?
Sodenkamp: Unsere Gesellschaft ist ein sehr komplexes Gefüge. Man kann nicht unbedingt einzelne Personen oder Personengruppen dafür verantwortlich machen. Das geht auf keinen Fall. Das ist auch nicht das Ziel des Kapitalismustribunals. Wer an welcher Stelle verantwortlich ist, das wird im Kapitalismustribunal ermittelt. Es wird vor allem in Aussicht gestellt, eine neue Rechtsordnung zu entwickeln, die implementiert werden kann.
N21: Was kommt nach dem Kapitalismus?
Sodenkamp: Ich weiß es noch nicht genau. Im Kapitalismustribunal geht es darum, in Ableitung aus den Urteilen einen Text zu generieren, der Grundlagencharakter haben kann, was in einer zukünftigen Ökonomie nie wieder passieren darf. Auf dieser Grundlagen kann sich eine neue Vielfalt des Wirtschaftens, und dazu gehört auch Konkurrenz zwischen Menschen, wieder entfalten, aber nicht in dieser Barbarei, die wir momentan sehen.