Vor Naturkatastrophen haben wir alle Angst. Die größte (= opferreichste) Naturkatastrophe des 20. Jahrhunderts ist recht unbekannt: Das Erdbeben von Tangshan in China am 28. Juli 1976 forderte geschätzte 655.000 Menschenleben und 780.000 Verletzte. Auch das vermutlich opferreichste Erdbeben seit Beginn der Menschheitsgeschichte fand in China statt: In der Provinz Shanxi forderte ein Erdbeben am 23. Jänner 1556 wahrscheinlich 830.0000 Tote. Das stellt das berühmte Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, das die Stadt zerstörte und geschätzte 60.000 Menschen das Leben kostete, zumindest nach Zahl der Opfer weit in den Schatten. Natürlich ist das Erdbeben von Lissabon trotzdem weit bekannter, weil es eine der großen Metropolen traf und erhebliche Folgen für das Denken über Gott hatte: Es fand in der Zeit der Aufklärung statt, in der der Gottesglaube sowieso unter den europäischen Eliten stark in Zweifel gezogen wurde.
Gibt es einen Gott?
Welcher allmächtige, gütige Gott würde schon so ein Desaster zulassen, noch dazu an einem hohen christlichen Feiertag? Über die „Theodizee“, das Problem der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt, über die der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibnitz sich bereits 1710 Gedanken gemacht hatte, wurde erneut diskutiert. War die sinnlose Grausamkeit der Natur, des Zufalls, doch stärker als Gott? Gibt es Gott überhaupt? Auf diesen Gedanken, der uns im 21. Jahrhundert natürlich nicht so neu ist wie der europäischen Elite des 18. Jahrhunderts, spielt der Jurist und auf historische Stoffe spezialisierte Sachbuchautor Hans-Dieter Otto schon im Titel an, den er seinem neuen Buch gegeben hat: „Über uns kein Himmel?“
Otto erzählt von den furchtbarsten Katastrophen der Menschheit von der Antike bis in die Gegenwart: von gewaltigen Erdbeben und Vulkanausbrüchen, Sturmfluten und Wirbelstürmen, denen die Menschheit offenbar ebenso schutzlos ausgeliefert ist wie Hungersnöten und Epidemien wie der Pest oder der Spanischen Grippe. Der Autor lässt nichts aus: Vom Ausbruch des Laki auf Island 1784 bis hin zu Katastrophen, die unser zeitgenössisches Leben in den letzten Jahren zumindest geistig erschüttert haben, reicht der Todestanz. Auch wer den Namen des Vulkans (Eyafjallajökull) nie aussprechen konnte, der 2010 den Luftverkehr zwischen Europa und Nordamerika zeitweise unmöglich machte, wird unweigerlich von ihm gehört haben. Ebenso von dem Tsunami, der am 26. Dezember 2004 in Süd- und Südostasien Hunderttausende Menschenleben kostete.
Und was ist mit den Katastrophen der Zukunft?
Hier schreibt Otto, dass man weiß, dass der Vulkan Cumbre Vieja auf der Kanareninsel La Palma ein großes Problem darstellen könnte, gegen das die Menschheit ebenso wenig unternehmen kann wie gegen Asteroideneinschläge oder die Tatsache, dass unsere Sonne irgendwann in Milliarden von Jahren zunächst zum „Roten Riesen“ und dann zum „Weißen Zwerg“ werden wird. Gegen diese zeitlich weit entfernten kosmischen Tatsachen ist kein irdisches Kraut gewachsen. Sie interessieren uns Heutige auch nur sehr abstrakt.
Anders ist dies jedoch bei zeitlich viel näheren, absehbaren Katastrophen durch weltweite Klimaänderungen. Otto führt den Klimawandel ebenso an wie das durch weltweite Produktions- und Verhaltensänderungen scheinbar gezähmte Ozonloch und weist kritisch darauf hin, dass es sich dabei bekanntlich um keine reinen Naturkatastrophen handelt. Daher kann die Menschheit etwas dagegen unternehmen. Welche Folgen das Nicht-Handeln haben kann, beschreibt Otto in aller Deutlichkeit.