Berlin, 4. Oktober 2015. Ist das herrschende Unrecht im geltenden Recht bereits angelegt? Auf welchem Rechtsverständnis gründet unsere Gesellschaft? Brauchen wir neue Maßstäbe und Regeln? Auch die dritte Vorverhandlung des Kapitalismustribunals warf grundlegende Fragen auf.
Der große Theatersaal des „Heimathafens“ in Berlin war nicht ganz gefüllt. Zum Gespräch eingeladen hatten die Veranstalter die Rechtswissenschaftlerin und Anwältin Anne-Kathrin Krugden, den Klimaforscher Mojib Latif und den Stuttgart 21-Aktivisten und Theatermacher Volker Lösch. Radiomoderator Jörg Petzold führte durch den Abend.
Seit Mai dieses Jahres werden auf www.capitalismtribunal.org Klagen für das Kapitalismustribunal gesammelt, das im Frühjahr nächsten Jahres in Wien stattfindet. Unter den Angeklagten befindet sich Horst Seehofer in guter Gesellschaft mit der Bundesregierung oder Milton Friedman. Es sind aber auch Denkmuster und Gesellschaftsverfassungen, TTIP oder das Kapitalismustribunal selbst, die als mutmaßliche TäterInnen aufgelistet werden. Es ist die Hinwendung zur Verantwortungsfrage, die in der gängigen Diskussion um das Wohl oder Übel des Kapitalismus ein wenig aus der Reihe tanzt. Denn Angela Merkel konkret zur Rechenschaft zu ziehen und Personen beim Namen zu nennen, die am mutmaßlichen Unrecht beteiligt sind, erinnert daran, dass wir es mit einem von Menschen gemachten System zu tun haben.
Hoffnungsvoll und erwartungsfroh hatte sich das Berliner Publikum zu dieser Veranstaltung eingefunden. Insgeheim war man sich vielleicht sogar schon über manches einig. Nachdem die musikalische Interpretation von Freude schöner Götterfunken den schalen, wenn nicht verstörenden Beigeschmack der europäischen Werte zur Einstimmung anklingen ließ, fiel der Vorhang, und die ersten Anklagepunkte wurden diskutiert.
Die erste Anklage stellt die Frage nach Funktion und Entstehung von Rechtsnormen. Wenn unsere Gesetze unser Verständnis von Gesellschaft zum Ausdruck bringen und dieses Verständnis von einer bestimmten Wirtschaftsordnung geprägt ist, ist es dann nicht so, dass unser Rechtssystem gar nicht anders kann, als der Verteidigung, Vermittlung und Reproduktion der Verhältnisse zu dienen? Und wenn dem so ist, kann dieses Recht dann überhaupt rechtens sein? Und wenn darüber hinaus auch noch der Zugang zu diesem Recht, seine Auslegung und seine Anwendung unter den gleichen Prämissen erfolgt, muss man dann nicht über ein anderes, neues Recht nachdenken? Es sind solch grundlegende Fragen unseres Rechtssystems, die in der Hauptverhandlung nächstes Jahr auf der Tagesordnung stehen.
Die „Radbruch’sche Formel“, unter deren rechtsphilosophischer Prämisse das Verfahren steht, wirft nämlich die Frage auf, wann positives Recht zu Unrecht wird. Ein Recht, an das sich RichterInnen nicht halten müssen – oder dürfen?
Als Radbruch’sche Formel wird eine erstmals 1946 formulierte These des deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (1878–1949) bezeichnet. Dieser These zufolge hat sich ein Richter bei einem Konflikt zwischen dem positiven (gesetzten) Recht und der Gerechtigkeit immer dann – und nur dann – gegen das Gesetz und stattdessen für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden, wenn das fragliche Gesetz entwederals „unerträglich ungerecht“ anzusehen ist oderdas Gesetz die im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen
aus Sicht des Interpreten „bewusst verleugnet“
Unter dieser Radbruchschen Prämisse hatten nicht nur die Nürnberger Prozesse in den 60er Jahren das Völkerrecht erweitert, in Ecuador wurden in der Verfassung aus den gleichen Erwägungen auch Rechte der Natur verankert. Unter Kapitalismus wird vereinfacht eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verstanden, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und einer Steuerung von Produktion und Konsum über den Markt beruht. Aber ist die Warenförmigkeit von Grund und Boden und das Eigentum an Produktionsmitteln und Ressourcen mit einem Rechtsempfinden vereinbar, das auf den unveräußerlichen, gleichen Rechten aller Menschen beruht? Haben wir es heute vielleicht mit einer Wirtschaftsordnung zu tun, der die Zivilgesellschaft in keiner Weise mehr gewappnet ist? Und welche konkreten Mittel zu dieser Wappnung bräuchte es?
Letztlich geht es beim Kapitalismustribunal darum, in der geplanten siebentägigen Hauptverhandlung Widerstandsrechte zu formulieren. Die „Wiener Deklaration“ will klären, was am Kapitalismus mit Fug und Recht als Verbrechen gelten kann. So kann eine Art „Negativfolie postkapitalistischen Rechts“ entstehen, die den Vorteil hat, dass es einfacher ist, sich auf das zu einigen, „was nicht sein darf“ als auf den EINEN gemeinsamen konkreten utopischen Entwurf, auch wenn dieser nicht ausbleiben darf.
Anfang Dezember werden die rechtlichen Grundlagen und Verfahrenweisen im Haus der Kulturen der Welt präsentiert. Im Frühjahr beginnt der Prozess in Wien. Anklagen werden weiterhin entgegengenommen. Jede trägt zur Vollständigkeit der Diskussion bei. Nun müssen wir noch hoffen, dass auch die vierte Gewalt, die Publikative sich den Vorgängen nicht gänzlich verschließt.
Kommentar
von Camilla Elle
Die Form der Anklage zu wählen, sich des juristischen Impetus zu bedienen, wirkt zunächst nicht ganz stimmig. Denn das System mit seinen eigenen Mitteln schlagen zu wollen, scheint auf den ersten Blick weder erfolgversprechend noch von besonderer Konsequenz. Vielmehr versteckt sich darin womöglich ein Vertrauen in eine rechtliche Instanz und deren Vorgehen, welches schon länger hinter uns liegen könnte.
Gleichsam werden die Verhältnisse mit diesem Vorhaben jedoch verkehrt. Die Anklagebank ist gewöhnlich reserviert für die ganz Kleinen. Und das Recht selbst sitzt gemeinhin auf der gegenüberliegenden Seite. Was uns aber unter dem alten Begriff der Demokratie entgegentritt, ist nichts weniger als das Protektorat einer scheinbar legalen allumfassenden Vermarktung unserer Leben. Umweltzerstörung und Ressourcenraubbau, Armut und Konsumismus sind keine Nebenprodukte, sondern integraler Bestandteil dieser Ordnung, wie auch der Literat Ilija Trojanow, an diesem Abend eingespielt, betont. Was nun aber, wenn dies ernsthaft nicht rechtens ist? Wenn es illegal ist? Wenn wir es schon nach dem geltenden Gesetz für ein Verbrechen halten können? Wenn sich das zukünftige Gesetz denken lässt, nach welchem der metaphorische Charakter einer solchen Einstufung gänzlich seinen Geist aufgibt?
Wirft man dem Tribunal vor, dass auch dem Kapitalismus seine Verteidigung ermöglicht werden wird, unterschätzt man möglicherweise die gängigen Mythen, die das Projekt weiterhin aufrecht erhalten. In den Verhandlungen sollten dererlei Märchen eine gute Gelegenheit bekommen, offen zu Tage zu treten, und ihre Argumentationen und Widersprüche sollten nachvollziehbar werden. Die Überlegungen, die sich anschließen, taugen für eine Debatte, die Widerstand und zivilen Ungehorsam gesellschaftsfähiger machen könnte. Die helfen könnte, neue Institutionen zu erdenken und neue Instrumente zu erschaffen.
In dieser Herangehensweise liegt eine tiefgründigere Abstraktion von den gängigen Systemstrukturen, als man mit Bezug auf die Instanz Recht auf den ersten Blick vermuten könnte. Denn worum es geht, ist, das menschengemachte System auf sein Gemachtsein zurückführen und als veränderbar zu begreifen. Und in der Konsequenz zwangsläufig um die Frage: Wie wollen wir leben? Und welche Mittel müssen wir uns dafür an die Hand geben? Darüber, dass der Kapitalismus abgeschafft gehört und wie eine solche Abschaffung konkret aussehen könnte, sind sich die DiskussionsteilnehmerInnen an diesem Abend nicht einig. Mit solchen Diskussionen kommen wir den entscheidenden Fragen aber Schritt für Schritt näher.